Übertragung in der Schulwirklichkeit

Eine erste Wiederaufnahme der Überlegungen von 1994, erschienen  in:  Einführungen in die Psychoanalyse II, hg. v. K.J.Pazzini und S. Gottlob.- Transcript, 2006.

"...Die hier geforderte Handhabung der Übertragung ist die eigentliche Professionalität, die vom Lehrer zu erwarten ist. Aber es besteht wenig Hoffnung, daß in Zukunft mehr Menschen als heute darüber verfügen werden. Sie ist erfahrbar, ob sie lehrbar ist, ist ungewiß.

Die eigene Psychoanalyse könnte zu dieser Professionalität verhelfen; in der Tat forderte Freud, daß die Erzieher eine Psychoanalyse machen sollten. Wer die psychoanalytische Erfahrung hat, von dem ist anzunehmen, daß er freier, offener und bedachter, warum nicht: weiser, mit den Alltagsphänomenen des Unterrichtens und Erziehens umgeht, nicht in alle Fallen des Imaginären tappt, sich nicht in eine Zwangsordnung flüchtet.

Aber die Forderung nach einer Psychoanalyse der Lehrer widerspricht heute nicht minder dem Zeitgeist als zu Freuds Zeiten; die Zahl der Pädagogen, die eine Psychoanalyse gemacht haben, ist gering. Vielleicht wäre schon einiges gewonnen, wenn die angehenden, aber auch die routinierten Lehrer in Supervisionsgruppen jene Distanzierung vom Alltag erfahren, die es ihnen erlaubt, sich bewußt zur Übertragung zu verhalten.

Freuen wir uns, daß es Menschen gibt, "geborene Lehrer", deren eigene Entwicklung, glücklicheren Zufällen unterworfen, sie von vornherein zu dieser Professionalität befähigt.

Glauben wir nicht, daß die Lehrerschaft insgesamt je eine andere, je "besser" sein kann als gestern und heute.

Hoffen wir, daß die aktuellen Erosionen der Übertragung ein Ende finden, sich möglicherweise neue zeitgemäße Übertragungsstrukturen entwickeln, vor allem: daß Bildungsminister und die ihnen zuarbeitenden Theoretiker wieder verstehen, woran der Schüler sich bildet: nicht an Informationen, sondern am Anderen in der Übertragung."

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